„Wir Evangelischen kennen die Bibel“, sagte einmal eine Frau in der Frauenhilfe zu ihrer katholischen Sitznachbarin und meinte damit, dass man früher in der Konfirmandenzeit viele Psalmen, Gebete und wichtige Bibeltexte auswendig lernen musste. Und in der Tat haben viele Ältere aus der Kirchengemeinde das alles bis heute im Gedächtnis. Wenn ich etwa auf dem Friedhof stehe und den Psalm 23 mit „Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln …“ anstimme, sehe ich, wie viele der Anwesenden leise mitbeten können. Oder wenn ich im Seniorenheim die Abendmahlsworte „Der Herr Jesus Christus, in der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot …“[1] laut spreche, bewegen sich die Lippen der Bewohnerinnen und Bewohner mit. Sie sind mit der Bibel groß geworden.
„Wir Evangelischen kennen die Bibel“, sagte die Frau und meinte damit die Lutherbibel. Diese ist die Bibelübersetzung aus dem Hebräischen und Griechischen, den Ursprachen der Bibel ins Deutsche. Martin Luther selbst begann damit 1521 in seinem Exil auf der Wartburg und überarbeitete den Text bis 1545 immer wieder sprachlich.
Zwischen 1545 und heute liegen nun aber mehrere Jahrhunderte und die deutsche Sprache hat sich weiterentwickelt. Vieles aus der Übersetzung von 1545 wurde in der Zeit danach unverständlich. Aus diesem Grund hat man den Luthertext in mehreren Etappen der Gegenwartssprache behutsam angepasst. Die derzeit in den evangelischen Kirchen maßgebliche Ausgabe stammt aus dem Jahr 1984.
Die Texte aus der Lutherbibel sind die Texte, die die Evangelischen im Ohr und im Herzen haben. Sie kennen ihre Sprache, die bisweilen für heutige Ohren antiquiert und fremd klingt, aber eine ungeheure Sprachkraft besitzt und die die deutsche Sprache stark beeinflusst hat. Sprichwörter wie „Hochmut kommt vor dem Fall“[2], „Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein“[3], „sein Licht unter den Scheffel stellen“[4] oder „sein Scherflein beitragen“[5] stammen aus der Lutherbibel.
„Wir Evangelischen kennen die Bibel“, sagte die Frau. Sie ist aber mit eine der letzten, die das sagen kann, und damit geht gleichzeitig auch ein großer Schatz aus biblischen Geschichten, Gebeten und Bildern verloren, auf den man in allen Lebenslagen zurückgreifen kann. Wie viele Menschen haben aus der Vision des Johannes, in der er einen neuen Himmel und eine neue Erde sieht, die Gott schaffen will[6], angesichts des Sterbens Kraft gezogen! Wie viele Menschen sind unter dem Motto „Schwerter zu Pflugscharen“[7] für eine Welt ohne Waffengewalt eingetreten! Wie viele Ehepaare haben unter Verweis auf Jesus Christus ihre Ehe geführt und auch, wenn es sein musste, um sie gekämpft!
„Wir Evangelischen kennen die Bibel“, sagte die Frau. Auch wenn das nur noch für einen Teil unserer Gemeindeglieder stimmen dürfte, so hat vielleicht doch der ein oder andere jetzt Lust bekommen, die Bibel wieder einmal aufzuschlagen. Ein Anlass dazu könnte sich (zum Beispiel) ab dem 19. Oktober bieten, wenn eine neue Lutherbibel in den Handel kommt. In mühsamer Kleinarbeit hat die Evangelische Kirche von Deutschland die Lutherbibel (nun) noch einmal sprachlich überarbeiten, Übersetzungsfehler ausmerzen, viele Stellen genauer übersetzen, Kapitelüberschriften verändern und das Layout moderner gestalten lassen. Dabei wurde versucht, die gewaltige Sprachkraft Luthers zu erhalten. Bekannte Texte, die sich tief in das Bewusstsein der Evangelischen eingegraben haben, wurden deshalb kaum angerührt. So werden wir an Weihnachten immer noch „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde.“[8] hören – so, wie wir es kennen, und nicht etwa in modernem Deutsch: „Zu jener Zeit hat Kaiser Augustus angeordnet, dass sich alle Menschen in seinem Reich in Steuerlisten eintragen sollen.“
Eigentlich spielt es aber keine Rolle, welche Bibelübersetzung wir benutzen. Dem einen gefällt eher der klassische Luther, einen Anderen spricht eine Übersetzung in modernes Deutsch[9] an und wieder ein Anderer sucht vielleicht eine sehr wörtliche Übertragung[10]. Jeder kann die für sich passende Übersetzung finden, mit der er gut zurechtkommt. Hauptsache ist, dass das Wort Gottes gelesen und mit ihm gelebt wird.
„Wir Evangelischen kennen die Bibel“, sagte die Frau. Ich sage: „Wir sollten sie kennen.“ Über Generationen hinweg haben die biblischen Geschichten, Gebete und Texte die Menschen begleitet, getröstet, zum Danken angeregt, inspiriert. In ihnen wird vom Fundament unseres Glaubens erzählt. Aus ihnen erfahren wir, wer und wie Gott ist. Die Bibel sollte die geistliche Heimat der Christinnen und Christen sein.
Ich kann Sie nur ermutigen, die Bibel wieder einmal in die Hand zu nehmen, darin zu stöbern, einzelne Texte zu lesen. Vielleicht beginnen Sie mit dem kurzen Markusevangelium oder mit den bekannten Geschichten aus dem 1. Buch Mose. Das ist nicht viel und die Texte sind ansprechend. Und wenn Sie Fragen haben, fragen Sie uns! Ich wünsche Ihnen viel Spaß mit der Bibel und gute Entdeckungen!
Ihr Michael Hilka
[1] 1. Korinther 11,23-25
[2] Sprüche 16,18
[3] Prediger 10,8; Sprüche 26,27
[4] Matthäus 5,15
[5] Markus 12,42
[6] Offenbarung 21,1-5
(7) Micha 4,3
(8) Markus 10,9
(9) z. B. Gute Nachricht Bibel
(10) z. B. Elberfelder Bibel